Unfertiges Regelwerk verunsichert Läufer und Trainer (08.10.2003) Anmerkungen zum neuen Rollkunstlauf-Wertungssystem (Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Eissport-Magazins (Heft 7/03) erschienen.) von Sepp Schönmetzler Mangelhafte Systematik Die Formulierungen sind fachlich mangelhaft und führen beim Leser unter anderem durch die Verwendung verschiedener Bezeichnungen für denselben Parameter zu Unklarheiten oder sogar Missverständnissen. Für die Drehung werden an verschiedenen Textstellen die Bezeichnungen Drehung, Umdrehung, Runde und Rotation verwendet. “Volle Umdrehungszahl” bei Sprüngen Als erster und wichtigster Punkt in den “Generellen Regeln zur Beurteilung der Sprünge beim Kürlaufen - Kriterien” wird eine “volle Umdrehungszahl” gefordert. Dies ist irreführend, denn kein einziger Sprung auf Rollen oder auf dem Eis kann tatsächlich mit einer “vollen Umdrehungszahl” gemacht werden. Bei allen Sprüngen wird nicht nur hoch gesprungen, sondern auch gedreht. Diese Drehung (biomechanisch korrekt müsste es heißen, dieser “Drall”) muss vor dem Beginn der Flugphase erzeugt werden, da dies in der Luft nicht mehr möglich ist. Das “System Mensch” muss bereits vor dem Abheben ein geeignetes “Massenträgheitsmoment” (hängt von der Körperhaltung ab) und eine gewisse Rotationsgeschwindigkeit haben, damit diese später durch Schließen (unter anderem durch Heranziehen der Extremitäten an die Drehachse) beschleunigt werden kann. Dabei ist er natürlich gehalten, so wenig wie möglich vorzudrehen.Selbst beim Axel, der der Regel entsprechend eigentlich von vorwärts abgesprungen werden müsste, hat der Läufer bei einer guten Ausführung beim letzten Bodenkontakt bereits bis ca. 90 Grad gedreht. Ähnlich ist es bei der Landung. Würde man genau nach 1,5 Drehungen in der allgemeinen Sprungrichtung aufkommen, würde man rauskippen. Deshalb muss man den ersten Bodenkontakt schon ca. 30-80 Grad vorher machen. In diesem Moment dreht der Körper noch recht schnell weiter und wenn der Fuß von vorne nach weiter hinten abrollt, wird er nach und nach durch die zunehmende Reibung beim Aufsetzen des ganzen Fußes (auf alle vier Rollen bzw. auf dem Eis auf der Kante) und dem schnellen “Öffnen” im Auslaufbogen stabilisiert. Dabei wird der Körper wieder in eine der Kurvenkrümmung entsprechende Schräglage gebracht. Der Läufer benötigt also eine gewisse Zeit auf dem Auslaufbogen, bis er die Drehung aus der Flugphase kompensiert hat. Das ist bei allen sechs Sprungarten bei Absprung und Landung so - egal ob auf Eis oder Rollen - vor allem aber bei dem von der “Kante” abgesprungenen Axel, Salchow und Rittberger. Bei Flip und Toeloop gleitet man zwar relativ gerade an, in der letzten Absprungphase wird aber ebenfalls schon vorgedreht und in der Luft wird die Schließbewegung vervollständigt. In den Lutz geht man mit Gegendrehung rein, die man als Ausholbewegung für die Drallerzeugung braucht. Auch bei diesen drei von der Zacke bzw. dem Stopper abgesprungenen Sprüngen wird vorgedreht, sonst ginge gar nichts. Auch hier würden klare Bewegungsleitbilder (kommentierte Bildreihen) für Klarheit der Aussage und ein tieferes Verständnis der Techniken bei unseren Sportlern führen. Es ist auch eine Aufgabe des Fachverbandes, dafür zu sorgen, dass man beim Sport entsprechend dem Bildungsgrad und dem Alter etwas dazulernt und versteht, was man macht. Landung ohne Stopper In den “Generellen Regeln” wird eine Landung ohne Stopper gefordert. Im Protokoll des Trainerlehrgangs am 7. Dezember 2002 ist gar zu lesen: "Das Gewicht sollte beim Aufsprung auf dem Absatz des Landebeines sein". Damit wird das wichtigste Glied in der natürlichen anatomischen Dämpfungskette ausgeschaltet und die Gesamtbelastung muss im Knie- und Hüftgelenk abgefangen werden. Dies führt zu einer unnötigen Belastung der Lendenwirbelsäule und kann 20-30 Jahre später Probleme bereiten. Man will die Läufer daran hindern, den ersten Bodenkontakt mit einem bis zur Fußspitze gestreckten Bein und folglich mit dem Stopper zu machen, ohne zu sagen, warum. Hochfrequenzaufnahmen mit 500 Bildern pro Sekunde von Eiskunstlaufsprüngen haben bereits vor 24 Jahren ergeben, dass der erste Eiskontakt bei allen richtigen Landungen mit der Zacke gemacht wird. Innerhalb von Hundertsteln einer Sekunde rollt der Schlittschuh von der Zacke bis zur Hacke ab und pendelt zwei bis dreimal im Ballenbereich vor und zurück bis er dort stabilisiert ist und ruhig weiter gleitet. In dieser Zeit beugt der Läufer Fuß-, Knie- und Hüftgelenk in der umgekehrten Reihenfolge der Absprungbewegung. Dieses natürliche Sprungverhalten kann man nicht nur bei Menschen in allen Sportarten, sondern auch bei allen Tieren beobachten. Warum lässt man die Rollkunstläufer den ersten sehr kurzen Bodenkontakt nicht auf dem Stopper machen? Entscheidend ist doch, dass man dort nicht verweilt, sondern in ähnlich kurzen Zeiträumen sofort über die vorderen Rollen auf den ganzen Fuß bzw. alle vier Rollen abrollt. Es würde mich nicht wundern, wenn Hochfrequenzaufnahmen beweisen würden, dass dies bei den besten Springern der Rollkunstlaufwelt ohnehin passiert, dass das menschliche Auge dies aber zeitlich nicht auflösen kann, so dass wir es nicht wahrnehmen. Als Folge des Stopper-Verbots versuchen die Läufer instinktiv, die Belastung durch ein stärkeres Beugen im Hüftgelenk aufzufangen, was wiederum die Lendenwirbelsäule mehr als nötig belastet. Das wird dann jedoch wieder als “Loslassen der Körperspannung (Zusammenfallen)” als “schlecht” bewertet und mit Abzügen geahndet. Man wird also für die logische Folge der Einhaltung einer fragwürdigen Regel bestraft. Der Gesundheit der Sportler zuliebe sollte man diesen Punkt unbedingt so schnell wie möglich klären. Toeloop-Technik Beim Angleiten zum Toeloop - egal ob er mit dem Einwärts-Dreier, dem Auswärts- Dreier mit Umsetzen oder dem Wechselschritt (Mohawk) mit Umsetzen angesetzt wird - muss der Läufer seine grundsätzliche Hoch-Tief-Bewegung mit dem flachen und sehr direkten Hinführen des Spielbeines (das beim Einstechen zum Stützbein wird) an die Stützstelle kombinieren, damit er Zeit hat, die vertikale Stützbeschleunigung nach oben zu initiieren, bevor er auf vorwärts gedreht hat. Wenn er das Spielbein - nach Vorschrift - beim Rückwärtsgleiten jedoch zuerst noch vor den Körper führt, kommt der Stützeinsatz in Relation zur fortlaufenden Drehbewegung zu spät. Diese überflüssige Beinbewegung stört den Sprungrhythmus empfindlich und führt dazu, dass der Sprung langsamer (bzgl. der Horizontalgeschwindigkeit) angesetzt wird, damit man bei einer relativ langen Stützzeit nicht direkt umkippt und Zeit für den Umweg des Spielbeins hat. Gute Stützkraft und damit Sprunghöhe erreicht man bei den getippten Sprüngen nur mit relativ hoher Horizontalgeschwindigkeit. Beim Roll- und Eiskunstlauf muss man die Erzeugung von "Drall" und Höhe koordinieren. Die Stützdauer muss kurz sein, damit der Läufer während des Stützkontaktes in einer Stellung quer zur Gesamtbewegungsrichtung nicht bereits umkippt. Wahrscheinlich haben die jungen Läufer beim Training der neuen Technik gemerkt, dass die vorgeschriebene Beinbewegung zusammen mit einem schnellen Anlauf zum Umkippen führt. Darum haben sie alle den Toeloop im Wettkampf ungewöhnlich langsam und vorsichtig gemacht, was der ursprünglichen Vorschrift, schnelle, hohe und weite Sprünge zu zeigen, widerspricht und müsste niedrigere Wertungen zur Folge haben. Auch in diesem Fall werden die Läufer für die logischen Folgen einer fragwürdigen Regel bestraft.Der absolute Technik-Hammer ist die Aufforderung, den Toeloop künftig von beiden Beinen abzuspringen, da dies international mehrheitlich so gemacht würde. Hochfrequenzaufnahmen dürften den Gegenbeweis liefern. Rittberger-Technik Hier wird mit dem nach hinten herausgeschleuderten Spielbein eine Technik verlangt, die allen biomechanischen Grundsätzen widerspricht. Dies habe ich vor ca. 25 Jahren im Auftrag vom damaligen Bundestrainer Günter Koch an mehreren Wochenenden bei der Traineraus- und -fortbildung in Darmstadt im Detail erklärt. Diese unökonomische, hässliche und orthopädisch fragwürdige Spielbeinbewegung stört den Läufer, weil sie die Gesamtkörperdrehung zuerst überholt und dann wieder zurückgeführt werden muss und weil ein Schließen im entscheidenden Moment nicht möglich ist. Außerdem wird das in den “Generellen Regeln zur Beurteilung” verlangte “Einhalten der Kanten” damit unmöglich gemacht. Werden die Läufer auch für die logischen Folgen dieser fragwürdigen Regel bestraft - offenbar nicht? Die Maximalpunktzahl und die Geschlechter Sehr seltsam ist die Tatsache, dass Mädchen bzw. Frauen dieselben Punkte erhalten wie Männer, obwohl jeder weiß, dass sie nicht dieselbe körperliche Leistung wie die Männer erbringen können. Trotzdem liegen ihre Punktzahlen in der Summe auch zwischen 3,0 und maximal 10,0. Würde ein Mann in der Kurzkür vierfach springen, könnte er nur dieselbe Punktzahl 10,0 erhalten wie eine Frau, die nur dreifach springt. Bedeutet das, dass Frauen nie in die Nähe der Maximalpunktzahl kommen werden? Diese Maximalpunktzahl wird den Regelgestaltern in der Zukunft Probleme bereiten, da man davon ausgehen kann, dass sich auch dieser Sport weiterentwickeln wird. Wird dann die erreichbare Punktzahl nach oben hinausgeschoben? Unsinnige Punktzahlen Für einen Doppel-Axel erhält ein Meisterklasseläufer bis 1,6 Punkte, für einen Dreifach-Axel bis 1,8 - also nur 0,2 Punkte mehr. Wer sich das ausgedacht hat, kann von diesem Sport nicht viel verstehen, denn zwischen diesen beiden Sprüngen liegen Welten. Unwesentliche Fehler überbewertet Macht ein Spitzenläufer einen sehr guten Dreifach-Axel, tippt aber beim Auslaufen kurz auf den Stopper oder auf den zweiten Rollschuh, nimmt kurz die Hand zu Hilfe oder es fehlt ein Drittel der letzten Drehung, dann ist der Sprung laut Regel “ungültig (ohne Bewertung)”. Seltsamerweise erhält er trotzdem für ein so genanntes “ungültiges Element” 0,5 Punkte. Dies ist unter verschiedenen Aspekten nicht nachzuvollziehen, denn ein anderer, der nur einen Einfach-Axel macht, erhält dafür bis 0,9 Punkte. Die Relationen stimmen nicht. Widersprüche “Sprungkombinationen, die ein ungültiges Element enthalten, dürfen nur für den sauber ausgeführten Teil bewertet werden.” Das steht auf der ersten Seite der “Generellen Regeln zur Beurteilung - Kurzkür und Kür”. Drei Seiten weiter unter “Spezielle Regeln zur Beurteilung der Kurzkür” steht jedoch “2. Bei der Ausführung von Sprungkombinationen, bei der die Anzahl und/oder ein bestimmter Sprung vorgegeben sind, wird die ganze Kombination ungültig, wenn die Anzahl oder ein Sprung-Element ungültig ist.” Warum wird man für einen Fehler in einer selbst gewählten Kombination nicht so hart bestraft wird wie für einen in einer vorgeschriebenen? Ist “Wickeln” nun IN oder OUT? Seit mindestens 30 Jahren weiß man, dass das “Wickeln” (zu hohes Bein) schlecht ist, fatale Langzeitwirkung hat und vermieden werden sollte. In den Generellen Regeln ist davon nicht die Rede, aber in der "Wettkampfordnung Rollkunstlauf - Pkt. 4.4 Bestimmungen für das Kürlaufen". Dort steht: “Wickeln (übertriebenes Kreuzen des Spielbeins) mindert den technischen Wert eines Elementes entscheidend”. Hat man die beiden Texte nicht miteinander abgestimmt? Was gilt denn nun tatsächlich? Abschließende Anmerkungen Fehler wie das fatale “Wickeln” wurden jahrzehntelang ignoriert und werden trotz der mangelhaften Ästhetik dieser Technik auch heute noch nicht ausreichend sanktioniert. Dies hat der Gesamtentwicklung sehr geschadet. In wesentlich weniger wichtigen Punkten geht man dagegen zu weit und will den Trainern vorschreiben, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Wenn man in Regeln schon Bewegungsvorschriften erlässt, müssen sie richtig und für Leser mit unterschiedlichem Bildungsniveau fachlich eindeutig sein, besonders, wenn sie schon fast den Charakter von Lehrmaterialien haben sollen. Zugrunde liegen sollten Bewegungsleitbilder in Form von Bildreihen erstklassiger Springer mit allgemeinverständlichen Erläuterungen und einem direkten Bezug zu den Regeln. Kann eine TK oder ein Bundestrainer solche Materialien aufgrund fehlender Qualifikation nicht selbst erstellen, so ist dies überhaupt kein Problem und keineswegs ehrenrührig. Allerdings sollte sich ein Fachverband, der ernst genommen werden will, nicht die Blöße geben, unausgegorene und fehlerhafte Regeln herauszugeben und Tests und nationale Meisterschaften danach auszurichten. Nach Aussage von Cornelia Bork ist Carsten Steins für diese Regeln verantwortlich. Keiner von beiden scheint die fachliche Qualifikation für solche Arbeiten zu haben. Warum greifen sie dann nicht auf das 'Knowhow' sportwissenschaftlich ausgebildeter Personen zurück, die solche Materialien in Zusammenarbeit mit Trainern, Läufern und Funktionären problemlos und praxisnah erstellen können. Scheinbar hat man einige technische Schlagworte von Leonardo Lienhardt zu Dogmen erhoben, obwohl die fachlichen Grundlagen dafür nicht abgesichert sind. Es ist schade, dass Lienhardt aufgrund einer falschen Interpretation seiner sportlichen Umgangssprache und seiner methodischen Zielvorstellungen nun einen schlechteren Start als nötig bekommt. Eine Fachdiskussion über die neuen Regeln ist mit ihm unmöglich, weil dem versierten Praktiker alter Art sportwissenschaftliche Denkweisen fremd zu sein scheinen. Außerdem kann er seine Arbeitgeber nicht kritisieren, sonst wäre er nach kurzer Zeit wieder draußen. Also ist er “100ig damit einverstanden”. Seltsamerweise ist es ihm völlig egal, ob der Fuß vor dem Toeloop vorne oder hinten gehalten wird - Hauptsache, der Sprung ist gut gelungen und die Entwicklung geht in die beabsichtigte Richtung. Daraus kann man ableiten, dass nicht er, sondern die 'Technikexperten' des DRIV für diese Regeln, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, verantwortlich sind. Trainer und Läufer verstehen diesen Widerspruch nicht, denn wer es nicht wie gefordert macht, bekommt bei Meisterschaften Abzüge und fällt bei Tests durch. Es ist dramatisch, wenn man junge Menschen und deren Trainer zwingt, falsche Techniken zu lernen. Damit katapultiert man diesen Sport zurück ins sportliche Mittelalter und mit Sicherheit nicht an die Spitze der Nationen. Home